Schaf im Wolfspelz

Ayelet Gundar-Goshen: "Löwen wecken" (Verlag Kein&Aber) | 19.5.2017

Was macht ein angesehener Neurochirurg (Etan aus Beer Scheva), der nachts in der Wüste einen illegalen Einwanderer überfährt?
Aussteigen,  Lage checken - einsteigen, weiterfahren!

"Wie bitte?" fragt man, reibt sich die Augen und liest die Stelle gleich nochmal. Es bleibt dabei. Der, der den hippokratischen Eid geleistet hat, der bis zum letzten Atemzug seiner Patienten stets alles versucht, um zu retten, was noch zu retten ist, kratzt die Kurve und überlässt den  Eritreer seinem Schicksal.

Der Mann würde ohnehin sterben, warum also seine Karriere auf's Spiel setzen? Die Frau arbeitet bei der Polizei, eine lückenlose Aufklärung wäre unabdingbar. Die Kinder besuchen angesehene (und kostspielige) Privatschulen und Etans Professor in der Klinik lauert schon länger auf einen Fehler des Chirurgen.

Dummerweise gab es dann doch eine Zeugin, die ihn am nächsten Morgen vor die Entscheidung Anzeige oder ... stellt. Dieses "oder" ist dermaßen verhängnisvoll und katapultiert den Arzt in die Vorhölle der Ausgestoßenen und den Leser gleich mit.

Ständig wechseln die Perspektiven: wer eben noch gut war und unser Mitleid verdient hatte, zeigt zwei Seiten später seine teuflische Fratze. Alles wird in Frage gestellt und man weiß nicht mehr, auf welcher Seite man stehen möchte. Gut und böse sind kaum noch zu unterscheiden.

Was für ein Buch!

Lesen! Unbedingt lesen!
Luft anhalten und durch!